„Psychological Safety“ oder: Wie wir lernen zu streiten

Eine Unternehmenskultur, welche die psychologische Sicherheit von Mitarbeitern nicht ermöglicht, kann für Unternehmen fatale Folgen haben – darüber schreibt Joost Minnaar (Corporate Rebels) in seinem Artikel Psychological Safety: How Pioneers Create Engaged Workforces (Psychologische Sicherheit: wie Pioniere ihre Mitarbeiter befähigen (freie Übersetzung)). Und zwar nicht nur für diese selbst, sondern auch darüber hinaus, wie der VW Dieselskandal (2015) oder die Zündschlosskrise bei General Motors mit mehreren Toten (2014) zeigen. Das Versagen dieser Unternehmen führt Minnaar auf das Management und das Fehlen von psychologischer Sicherheit in deren Teams zurück.

Psychologische Sicherheit bezieht sich dabei auf die gefühlte Gewissheit von Einzelpersonen bei der Arbeit in einer Organisation. In einem psychologisch sicheren Umfeld ist es akzeptiert und in Ordnung, seine Meinung zu sagen. Bedenken zu äußern, ohne irgendeine Art von Bestrafung oder sozialer Ausgrenzung befürchten zu müssen. Anders gesagt: es ist erlaubt, man selbst zu sein, Fragen zu stellen und Fehler zu machen. Aufgrund seiner Relevanz in Bezug auf die selbstbestimmte und eigenverantwortliche Arbeit in Teams möchte ich mich in diesem Blogbeitrag näher mit dem Thema psychological safety auseinandersetzen und aufzeigen, wieso es über Vertrauen hinausgeht und welche Voraussetzungen dafür gegeben sein müssen.

Was versteht man unter Psychological Safety?

Amy C. Edmondson, Novartis Professor of Leadership and Management an der Harvard Business School, beschäftigt sich bereits seit 1999 mit diesem Thema. In ihrem Artikel Psychological Safety and Learning Behavior in Work Teams (erschienen in Administrative Science Quarterly Vol. 44, No. 2, Juni 1999) liefert sie eine Begriffsdefinition und beschreibt den Ansatz als „shared belief held by members of a team that the team is safe for interpersonal risk taking“ (S. 350) – also als Glaubenssatz eines Teams, der besagt, dass es für jeden möglich und sicher ist, zwischenmenschliche Risiken einzugehen.

Zwischenmenschliche Risiken

Zwischenmenschliche Risiken bezieht Edmondson in ihrem Text auf den individuellen Lernprozess, der nur entstehen kann, indem beispielsweise Fehler im Team diskutiert werden (S. 356). Das Eingehen von Risiken – sofern die Motivation dahinter wohlwollend ist – darf nicht bestraft werden, denn nur dadurch wird ein eigeninitiativer Lernprozess im Team ermöglicht (S. 377).

Das Lernen aus Fehlern wird auch als negatives Wissen bezeichnet. Dieses Wissen beinhaltet die Information darüber, wie etwas nicht funktioniert, und ist für die menschliche Entscheidungsfindung und das Verhalten in einem volatilen Umfeld essenziell. Negatives Wissen vermeidet teure Fehler und beruht auf individuellen Erfahrungswerten. In der Pilotenausbildung wird es sogar aktiv trainiert, indem per Flugsimulator schwierige Landebedingungen inszeniert werden, die die angehenden Piloten meistern müssen – und an denen sie zu Beginn meist scheitern (Harvard Business Manager 6/2011, Was ist…: Negatives Wissen?). Doch nur durch dieses Scheitern sammeln sie persönliche Erfahrungen, die in ihrem Fall sogar lebenswichtig sind.

Empfinden es Menschen im beruflichen Kontext subjektiv als riskant, Fehler zu machen, auf Mängel oder Ungereimtheiten hinzuweisen, und tun sie es deshalb nicht, wird an dieser Stelle der Lernprozess, also der Erwerb negativen Wissens, verhindert. Für die Person selbst, aber dadurch auch für das Team bzw. die Organisation. Das liegt daran, dass ein mangelhafter Umstand nicht diskutiert, sondern akzeptiert oder hingenommen und mit ihm weitergearbeitet wird. Im o. g. Fall von General Motors hatte dies sogar tödliche Folgen.

Sicherheit vs. Vertrauen

In meinem Artikel Vertrauen ist die Basis (erschienen im Februar 2018) habe ich erörtert, wie wichtig ein grundlegend vertrauensvoller Umgang miteinander und ein positives Menschenbild für Organisationen ist, die sich gem. heute geltender Maßstäbe zukunftsfähig aufstellen möchten. Ein durch Vertrauen geprägtes Arbeitsumfeld zeichnet sich durch die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller aus.

Psychologische Sicherheit geht über Vertrauen hinaus, da sie zusätzlich den gegenseitigen Respekt und die Lernfähigkeit im Team miteinbezieht. So schreibt auch Edmondson in ihrem oben erwähnten Beitrag, dass die Menschen im Team das Gefühl haben müssen, sie selbst sein zu dürfen (S. 345).

Streiten – eine in Verruf geratene Kulturtechnik

Aus Sicht der Psychologie hat Streit einen konkreten zwischenmenschlichen Sinn: Die Bearbeitung von Unterschieden. So beschreibt es Philipp Yorck Herzberg, Professor für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, in seinem Artikel Vom Wert des Streits (Forschung & Lehre / Deutscher Hochschulverband, 12/2017, S. 1056-1057). Durch das Austragen von Konflikten wird die Selbstreflexion trainiert, indem andere Perspektiven eingenommen werden oder man durch Zuhören Verständnis für andere und deren Ansichten entwickelt.

Im beruflichen Kontext sind es häufig kritische Fragen, die ein Konfliktrisiko bergen. Denn es bedeutet nicht nur, einen Status quo in Frage zu stellen, sondern damit vielleicht auch den/die hierfür Verantwortlichen. Da Konflikte oft als unangenehm empfunden werden, werden sie lieber vermieden. In seinem Artikel Streitet euch! (ZEIT ONLINE, 2012) nennt Karsten Polke-Majewski hierfür Gründe:

  • In Deutschland hängen uns noch die Ereignisse des 2. Weltkriegs mit ihrer aggressiven Propaganda nach; forsch vorgetragene Positionen scheinen daher per se verdächtig.
  • In einem Streitgespräch geht es darum, die eingenommene Position gut begründen zu können. Und weil das oft schwierig ist, vermeiden wir die Konfrontation.

Streit gilt demnach nicht als salonfähig. Und wenn weniger gestritten wird, verlernen wir den richtigen Umgang damit. Die produktive Komponente des Streitens bleibt dadurch ungenutzt. Neue Erkenntnisse zum Beispiel, die aus dem Einnehmen einer anderen Perspektive resultieren, und damit nicht zuletzt auch zu mehr Verständnis füreinander führen können. Bereits für den Soziologen Ralf Dahrendorf waren jedenfalls Konflikt und Auseinandersetzung […] Chancen des Fortschritts (Konflikt und Freiheit, Piper Verlag, München, 1972).

Konflikte zu umgehen, kann daher vor allem in einer Wissensgesellschaft nicht die Lösung sein. Was vielmehr zählt, ist der richtige Umgang damit. Und was wir dafür brauchen, ist ein Regelwerk, das es allen Parteien ermöglicht, auch nach einem Streit oder einer hitzigen Diskussion ohne Gesichtsverlust – idealerweise im Guten und mit neuen Erkenntnissen – auseinanderzugehen.

Schlussgedanke

Das Resultat eines Streits muss weder Einigung noch Kompromiss sein. Die Parteien können auch erkennen, dass sie sich nicht einig werden und die gegenseitigen Positionen weiterhin falsch finden. Diesen Umstand und sein Gegenüber dennoch zu akzeptieren, nennt Polke-Majewski „echte Toleranz.“

„Working in a psycholigically safe environment does not mean that people […] offer unequivocal praise or unconditional support for everything you have to say. In fact, you could say it’s the opposite. [IT] is about candor, about making it possible for productive disagreement and free exchange of ideas. It goes without saying that these are vital to learning and innovation. Conflict inevitably arises in any workplace. Psychological safety enables people on different sides of a conflict to speak candidly about what’s bothering them.“AMY c. Edmondson

Ein paar Punkte können dabei helfen, grundlegende Regeln einer konstruktiven Auseinandersetzung einzuhalten:

  • Kritische Fragen sind nicht als Kritik an einer Person zu verstehen.
  • Für die eigene Position gibt es sachliche Argumente.
  • Das Gegenüber wird trotz der Differenzen als gleichwertig anerkannt.
  • Es geht nicht um persönliche Vorteile, sondern um ein höheres Ziel (z.B. einen verbesserten Kundennutzen oder die Zukunftsfähigkeit eines Geschäftsmodell).
  • Es erfolgt am Ende keine Aufteilung in Gewinner und Verlierer, da beide Parteien berechtigte Interessen vertreten.
  • Gegenseitiger Respekt ist gegeben, d.h. keine persönlich beleidigenden Äußerungen.
  • Emotionen dürfen ausgesprochen werden (Ich-Botschaften können helfen, die eigenen Gefühle vorwurfsfrei zu äußern).

Wenn Organisationen von Disruption sprechen, von Fehlerkultur und davon, dass es wichtig ist, mutig zu sein und immer wieder den Status quo in Frage zu stellen, dann muss die Voraussetzung dafür gegeben sein. Und dies bedeutet, den Menschen, die mutig sein und Fehler machen sollen, den entsprechenden Rahmen dafür zu bieten. Ein wichtiger Teil dessen ist psychological safety. Ein psychologisch sicherer Rahmen ermöglicht es Menschen, ehrlich ihre Meinung zu äußern und dadurch Reibungen und Meinungsunterschiede zuzulassen. Worum es gehen muss, ist der konstruktive Umgang damit.