Digitale Empathie

Es ist ein häufig diskutiertes Thema der letzten zweieinhalb Jahre bei Unternehmen, in denen viel oder vor allen Dingen vom Schreibtisch aus gearbeitet wird: Wie wird sich die Zukunft der Arbeit durch Corona verändern? Fest steht, dass die Pandemie dem Home Office einen Boost verliehen hat, der sich nur schwer zurücknehmen lässt. Denn der Beweis wurde erbracht: Es funktioniert. Auch die Skeptiker von Home Office mussten einsehen, dass Arbeit von zu Hause aus erledigt werden kann und wird. Und das manchmal sogar besser als im Büro. Denn 22 % der Arbeitnehmer:innen fühlten sich bei der Arbeit im Home Office produktiver (Handelsblatt, Dezember 2021). Vorausgesetzt natürlich, die IT-Infrastruktur stimmt und Doppelbelastungen, wie z.B. durch Home Schooling, entfallen.

Doch nicht erst durch die Pandemie ist digitale Zusammenarbeit erforderlich oder möglich geworden. Auch vorher schon haben Teams national und international verstreut zusammengearbeitet, gab es Jobs, die eine hohe Mobilität und gleichzeitige Erreichbarkeit erforderten, oder wurden ortsunabhängige Freelancer engagiert, mit denen rein digital kommuniziert wurde. Diese Art der Kollaboration, bei der zufällige Begegnungen und ein Austausch auf persönlicher Ebene eher selten vorkommen, stellt besondere Anforderungen an Organisationen, an Teams sowie an die Selbstorganisation Einzelner. Es geht darum, den Kontakt im digitalen Raum nicht abreißen zu lassen, so dass jede:r Einzelne psychisch gesund bleiben und persönliche Leistung abrufen kann. Dazu habe ich dieses Mal mit zwei Expertinnen gesprochen, die sich seit 2019 mit dem Thema digitale Empathie befassen. 

Dr. Martina Weifenbach ist Achtsamkeitsexpertin und Autorin von „Achtsamkeit und Innovation in integrierten Organisationen“ und hat (zusammen mit Tim Weifenbach) das Unternehmen myndway by Mutig und Achtsam GmbH gegründet. Marlena Lüneburg ist Wirtschaftspsychologin und Achtsamkeits-Coach. Im Rahmen von Workshops und Einzel-Coachings schult sie achtsame Selbstführung sowie Kollaboration. 

NWO: Frau Dr. Weifenbach, um Missverständnissen vorzubeugen und unseren Leser:innen ein gemeinsames Verständnis zu vermitteln: Wie definieren Sie digitale Empathie? 

Dr. Weifenbach: Empathie beschreibt die Fähigkeit, die Gefühle eines anderen Menschen zu verstehen und mit Mitgefühl zu reagieren. Sie ist ein wesentlicher Faktor, wenn wir von emotionaler Intelligenz sprechen. Wenn wir von digitaler Empathie sprechen, geht es um den Transfer dieser Fähigkeit in den digitalen (Arbeits-)Raum. Also darum, auch in digitalen Meetings die Gefühlslagen unserer Kolleg:innen zu erkennen und mit diesen umzugehen sowie darüber hinaus die Nutzung und einen angemessenen Ausdruck von Gefühlen im digitalen Raum.

NWO: Kann man digitale Empathie wirklich lernen oder wie sehr kommt es auf die jeweilige Persönlichkeit an? 

Dr. Weifenbach: Natürlich sind gewisse Komponenten angeboren, aber das ist nur ein kleiner Teil. Beispielsweise reagieren Babys schon sehr früh auf die Emotionen anderer, als wären es ihre eigenen, da sie sie noch nicht von ihren eigenen unterscheiden können. Diese automatische Ansteckung verblasst, wenn wir älter werden, weil es bei Empathie ebenfalls um eine bewusste Wahl geht. Und diese Fähigkeit können wir trainieren. Die Herausforderung ist, dass Empathie auf individueller Ebene erlernt wird und es kein Handbuch dafür gibt. Es geht um soziale Kompetenzen und die beginnen bei der Selbstwahrnehmung bzw. der Selbstreflexion. 

Im Arbeitskontext erleben wir, dass Zusammenarbeit letztendlich belohnt wird, wenn wir die persönliche Verantwortung übernehmen, um Mitarbeiter:innen und Kolleg:innen besser zu verstehen. Das beginnt schon in Alltagssituationen, wenn jemand zum Beispiel die Verantwortung übernimmt, wie in digitalen Meetings ein Gespräch eröffnet bzw. beendet wird. Solche Fähigkeiten kann man sehr gut trainieren. 

NWO: Viele Unternehmen, wie z.B. Dropbox mit seinen Dropbox Studios (W&V, Juli 2021), investieren aktuell in moderne Bürolandschaften, die zu Orten der Begegnung werden und kreative Zusammenarbeit fördern sollen. Geht der Trend wieder in Richtung „Arbeiten im Büro“ oder wieso sollten Unternehmen trotzdem (auch) in digitale Empathie investieren?

Dr. Weifenbach: Ich denke, wir können mit Sicherheit sagen, dass es ein komplettes Zurück zum „Arbeiten im Büro“ wie wir es kannten, nicht geben wird. Dass Unternehmen ihre Bürolandschaften moderner gestalten, ist toll, gleichzeitig geht es aber auch darum, die digitale Bürolandschaft modern zu gestalten und wichtige Werte zu kultivieren. 

Die Pandemie hat gezeigt, wie unterschiedlich wir arbeiten. Die einen bevorzugen es, von Zuhause aus zu arbeiten, die anderen gehen gerne ins Büro und ein weiterer Teil möchte einen Mix, das sogenannte Hybrid Office. Das Weltwirtschaftsforum empfiehlt eine zukünftige Belegung der Büros von 30 % und die meisten Unternehmen planen auch genau damit (McLellan, 2020). Laut dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut möchte jede:r Zweite im Home Office bleiben (Scheller, 2021). Die Möglichkeit, unsere Arbeitsmodelle an eine hybride Form anzupassen, eröffnet viele Möglichkeiten und eine Verbindung verschiedener Bedürfnisse von Arbeitnehmer:innen. Die Voraussetzung dafür ist es, dass sowohl im digitalen Raum als auch in den Arbeitsräumen die richtigen Bedingungen für ein produktives Arbeiten gegeben sind. Hier liegt es insbesondere an den Vorgesetzten, ihr Team bestmöglich zu unterstützen; Beispielsweise, indem in digitale Empathie investiert wird, welche die hybride Form der Zusammenarbeit erleichtert und letztendlich produktiver macht. 

NWO: Frau Lüneburg, wie hat sich das Thema in Ihren Augen seit der Pandemie entwickelt?

Lüneburg: Meiner Meinung nach gehört Empathie zu den wahrscheinlich wichtigsten Eigenschaften unserer Zeit und diese ist nun einmal geprägt vom digitalen Wandel. Die Digitalisierung ist auch im sozialen Raum allgegenwärtig, man kann sich ihr nicht entziehen. Dementsprechend ist es wichtig, auch die digitale Empathie als Sozialkompetenz zu berücksichtigen.

Aufgrund dessen, dass im Zuge der Pandemie ein Großteil des Arbeitsalltags für viele im digitalen Raum stattfindet, ist es notwendig, dass wir über neue Kompetenzen nachdenken. Laut dem Bericht des Lernportals Degreed „The State of Skills 2021“ sind 60 % der 5.000 befragten Mitarbeiter:innen der Meinung, dass es im Rahmen der Pandemie erforderlich ist, neue Skills zu erlernen. 46 % würden ihren Arbeitgeber verlassen, wenn dieser nicht in die Kompetenzentwicklung investiert (Tesnjak, 2021).

Die Frage, wie sich unser soziales Bewusstsein und unsere Kommunikation im Rahmen von Slack, MS Teams, Zoom etc. verändert, ist elementar. Bei digitaler Empathie geht es darum, dass wir unsere Mitarbeiter:innen und Kolleg:innen nicht nur im tagtäglichen Smalltalk auf dem Slack Channel bemerken, sondern lernen, uns auf einer tieferen Ebene zu erreichen. Soziale Bedürfnisse werden oft nicht genügend befriedigt und die anfängliche Euphorie darüber, von zuhause aus zu arbeiten, kann sich in ein Gefühl der Einsamkeit wandeln. Das sind Herausforderungen, denen man sich auf jeden Fall bewusst widmen sollte. 

NWO: Welchen Herausforderungen begegnen Sie in Unternehmen, mit denen Sie zusammenarbeiten und wie gehen Sie damit um? 

Lüneburg: Eine große Herausforderung ist die Eigenverantwortung. Wir bewegen uns in einer modernen Arbeitswelt, in welcher auf der einen Seite der Wunsch nach selbstbestimmtem Arbeiten besteht, dieser jedoch auch Selbstorganisation und ein hohes Maß an Selbstwahrnehmung erfordert. Voraussetzung hierfür ist ein achtsamer Umgang mit sich selbst und mit Kolleg:innen in unterschiedlichen Arbeitssituationen. Das Üben von Achtsamkeit und situativ passender Kommunikation schenkt Zeit und verringert Stress. Das versuchen wir bei myndway mitzugeben und zu kultivieren, indem wir Mitarbeiter:innen und Führungskräften einfache und zugängliche Achtsamkeitsübungen erfahren lassen. Dies erfordert aber auch Zeit. Die Zeit für solche „weichen“ Skills und Achtsamkeitsübungen am Arbeitsplatz freizuräumen ist ein Vorbehalt, dem wir durchaus begegnen. 

NWO: Frau Dr. Weifenbach, stehen Ihrer Meinung nach Teams und Führungskräfte vor denselben Herausforderungen oder gibt es da Unterschiede? 

Dr. Weifenbach: Die Führungskraft hat hier natürlich eine wichtige Verantwortung. Sie ist der Treiber dafür, die richtigen Werte im Arbeitsumfeld zu kultivieren. Das gilt für die Arbeit vor Ort wie auch im digitalen Raum. Insbesondere im digitalen Raum ist die Führungskraft gefragt, die Motivation aufrechtzuerhalten und trotz Verlust des persönlichen Kontakts vertrauensvolle Verbindungen zu schaffen. Für einige Mitarbeiter:innen ist das kein Problem, andere benötigen mehr Unterstützung. Und natürlich ist jede:r in einer Eigenverantwortung, diese muss jedoch zunächst erlernt werden. Wenn zum Beispiel ein Bedürfnis nach Kontakt entsteht, geht es darum, diesen auch einzufordern. 

Wenn es um Selbstwahrnehmung geht, um sich anschließend empathischer zu begegnen, ist es die Führungskraft, die empathisches Arbeiten vorlebt. Die Führungskraft  nimmt hier eine Vorbildfunktion ein. Setzt sie ihren Fokus auf einen reflektieren Austausch und schafft eine Kultur, in welcher sich jede:r Zeit füreinander nehmen darf, motiviert dies Mitarbeiter:innen, das Gleiche zu tun. Im modernen Management bewegen wir uns nicht mehr im klassischen „Führen“, es geht um Inspiration, um Leading by Example.

NWO: Was würden Sie Führungskräften empfehlen, die sich mit digitaler Führung schwer tun und gerne wieder emotional näher an ihr Team heranrücken würden?

Dr. Weifenbach: Achtsamkeit kann dabei helfen, Stimmungen im Team besser wahrzunehmen und tieferen Kontakt zu schaffen. Ein wesentlicher Fokus liegt auf der Gestaltung von persönlichem Austausch im digitalen Raum. Durch gezielte Verbindung mit Einzelpersonen können Missverständnisse reduziert und stärkere, produktivere Beziehungen aufgebaut werden. Es gibt mehrere Möglichkeiten, digitale Meetings zu gestalten. Eine Führungskraft trägt dafür die Verantwortung. Das bedeutet zum Beispiel, jede:r Teilnehmer:in fühlt sich im Meeting willkommen, angesprochen und dazu motiviert, ganz dabei zu sein. Wesentliche Punkte wie die Pausengestaltung oder aktives Zuhören prägen zusätzlich eine effektive Zusammenarbeit sowie eine Unternehmenskultur, welche auch digital einen Mehrwert schafft.

Wir sind große Fans von achtsamen Check-Ins zum Start eines Meetings. Die Aufmerksamkeit im digitalen Raum schwindet schneller als sie es in Präsenz tut. Demnach kann es hilfreich sein, zu Beginn alle Teilnehmer:innen ankommen zu lassen und den Fokus für einen Moment gemeinsamen zu finden.

Durch den fehlenden persönlichen Kontakt wissen wir auch nicht immer, wie es unseren Kolleg:innen und Mitarbeiter:innen geht. Initiieren Sie als Führungskraft das Gespräch. Planen Sie digitale Kaffeetreffen ein oder sprechen Sie Dankbarkeit für kleine Dinge aus. Laden Sie auch dazu ein, dass Austausch oder Feedback jederzeit eingefordert werden dürfen.

NWO: Frau Lüneburg, wie kann ich mich selbst achtsam führen?

Lüneburg: Das Stichwort ist hier auch wieder: Selbstwahrnehmung. Die Voraussetzung dafür, dass ich mich selbst führen kann, ist ein Bewusstsein für meine eigene Persönlichkeit sowie die eigenen Werte. Mit diesem Verständnis kann ein Zustand erreicht werden, in welchem ich im nächsten Schritt an meinen Entwicklungsqualitäten arbeiten kann. 

Dabei findet die Achtsamkeitspraxis auf zwei Ebenen statt: Dem Einüben und der Integration. Beim Einüben geht es darum, eine Achtsamkeitspraxis zu finden, die sich gut anfühlt. Und hier heißt es dann ganz klassisch ausprobieren und üben, üben, üben. Und nein, das macht nicht immer Spaß. Das ist auch mit Anstrengung verbunden, so wie bei jeder anderen Fähigkeit, die wir erlernen bzw. stärken wollen. Für die einen funktioniert Meditation, für die anderen Atemübungen. Wesentlich ist, ganz unabhängig von der Technik, für welche man sich entscheidet: Das Beobachten. Zu beobachten, was mit uns passiert, welche Gedanken wir haben, wie wir uns fühlen und wie wir letztendlich damit umgehen, erzählt uns sehr viel über uns. Und hier wird dann bereits die Empathie gegenüber uns selbst trainiert. 

Bei der Integration geht es darum, das geschärfte Bewusstsein, welches in unserer Übung trainiert wird, auch in den Alltag zu bringen. Beim Einkaufen, Duschen, Essen und letztendlich auch im Kontakt mit anderen, in Gesprächen und beim Zuhören. Die absoluten Endgegner-Situationen sind dann Streitgespräche oder Zustände der Überforderung. Hier werden wir gerne sehr reaktiv und mit einer achtsamen Selbstführung können wir aus dieser Reaktion heraustreten. 

Die Tatsache, dass die Arbeit mit Achtsamkeit uns unserem Selbst näher bringen kann und ehrliche Selbstführung bestärkt, weist auf die Parallelen der heutigen Bedürfnisse des Managements hin, wo es mehr als früher um Leadership und Kollaboration auf der persönlichen Ebene geht. Für eine Führungskraft kann der Umgang mit sich selbst und das daraus entstehende authentische Auftreten zu einer ehrlichen sowie motivierenden Beziehungsdynamik führen. 

NWO: Welche Tipps haben Sie, wenn man sich durch Home Office und hybrides Arbeiten von Kolleg:innen und Job distanziert bzw. entrückt fühlt? 

Lüneburg: Ich würde hier zwei Ebenen betrachten. Zum einen ist es der Blick nach Außen und zum anderen der Blick nach Innen. Was fehlt im Außen und was fehlt im Innen? Diese Fragen können für viele Menschen unangenehm sein, ermöglichen jedoch eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Problem. 

Im digitalen Raum ist es wichtig, auf sich aufmerksam zu machen. Fordern Sie Gespräche mit Kolleg:innen ein. Es muss nicht immer um arbeitsrelevante Themen gehen, es kann auch ein digitales Treffen sein, bei welchem man sich austauscht. Schließlich würden wir diesen Austausch im Büro ja auch haben. Gehen Sie demnach auf Kolleg:innen zu, vielleicht geht es dem ein oder anderen sehr ähnlich. Überlegen Sie sich gemeinsam, wie sie die digitalen Meetings und vor allem die Kommunikation strukturieren möchten. Gibt es Meetings, in denen jede:r zu Wort kommt, darf geteilt werden, wenn Pausen nötig sind oder sollten Feedback-Runden auch unter Kolleg:innen integriert werden, bei denen etwas Nettes gesagt wird. 

Die Frage zu beantworten, ob etwas im Innen fehlt, gelingt meistens mit einer achtsamen Auseinandersetzung mit sich selbst in einem ruhigen Moment. Geschärfte Selbstwahrnehmung ermöglicht uns, mitzugestalten. In dem Moment, in dem wir wissen, was wir brauchen, fällt es und leichter, danach zu fragen. 

Frau Dr. Weifenbach, Frau Lüneburg, ich danke Ihnen für das Gespräch.